ABGELAUFEN

ABGELAUFEN ist eine Bildserie, die in den Jahren 2005 bis 2008 in Berlin entstanden ist. Susanne Brodhage entscheidet sich mit ihrem ersten längeren Aufenthalt zu Fuß kreuz und quer durch die Stadt  zu laufen noch ohne eine verfeinerte Ortskenntnis und verzichtet auf jede Navigation. Sie konzentriert sich mit diesem privilegierten nicht zielgerichteten Blick auf räumliche Ausdehnungen und Qualitäten im Zusammenspiel aus Architekturen, Fassaden, Objekten und Benutzern. 
Vor einem fast weissen erregungsfreien Himmel fotografiert sie den dreidimensionalen Raum, der sich zwischen architektonischen Versatzstücken aufspannt und den Boden und den grauen Himmel als Decke benötigt, um als solcher erkennbar zu werden. Raum, der nicht a priori schon da ist, sondern immer erst entsteht.

Mitte der Nullerjahre war die besondere Situation in Berlin, das mit der Beseitigung der Mauer sich die gesamte räumliche Struktur der Stadt verschob. Riesige Brachflächen, plötzlich in zentraler Lage, wurden zu begehrten Objekten von Investoren und Bauherren. Die Zusammenführung von Ost-und West-Berlin, zweier Millionenstädte mit unterschiedlichster Geschichte wurde weiter vorangetrieben. Dabei blieb im Alltag der Stadtbewohner verborgen wie viele Prozesse, durch wie viele unterschiedliche Akteure gelenkt, tatsächlich gleichzeitig abliefen und auf welche Weise sich dabei die „inneren Bilder“ von der Stadt veränderten oder zum Teil ausgelöscht wurden.

Mit ihrem Blick begegnet Susanne Brodhage diesem Umbau der Stadt. Ihre Aufnahmen erscheinen zunächst beiläufig. Architektur mit Wiedererkennungswert wie der Zoopalast rücken in den Hintergrund, Schinkels Backsteinbau ist an den Rand gerückt, haushohe Großplakate ragen wie zufällig ins Bild oder bestimmen die Aufnahmen, indem sie ganze Gebäude und Baustellen verhüllen. Bei genauer Betrachtung wird sichtbar, in diesem städtischen Aussenraum der Innenstadt kommt Simulation und Illusion zum Einsatz durch „szenografische Techniken“, wie Ereignis- und Zwischen-Architektur und digitale Entwürfe für temporäre und gebaute Fassaden. 

Die detailreichen Farbfotografien offenbaren uns einen künstlichen Raum, der weniger gewachsen sondern hochgradig konstruiert ist, um in erster Linie ein urbanes Erlebnis zu beschwören. Sorgfältig komponiert schließen die Aufnahmen Ränder, Übergänge und Rückseiten von Konstruktionen und Fassadisierungen mit ein. Dadurch werden Zwischenräume sichtbar und das Verhältnis von einem Davor und Dahinter schwingt mit. Die Arbeit ABGELAUFEN dokumentiert nicht einfach „historische Bilder“ der Stadt Berlin, ihre starke Wirkung liegt vielmehr darin, das sie versucht einen Blick hinter die Bilder zu werfen, sozusagen in die Wirklichkeit.



English Version


ABGELAUFEN

ABGELAUFEN is a series of pictures taken in Berlin between 2005 and 2008. Susanne Brodhage decides with her first longer stay on foot to walk criss-cross through the city still without a refined knowledge of the place and renounces any navigation. With this privileged non-targeted gaze, she concentrates on spatial expanses and qualities in the interplay of architectures, facades, objects and users. Against an almost white excitement-free sky, she photographs the three-dimensional space that stretches out between architectural set pieces and needs the ground and the gray sky as a ceiling to become recognizable as such. Space that is not a priori already there, but always emerges.

In the mid-noughties, the special situation in Berlin was that with the removal of the Wall, the entire spatial structure of the city shifted. Huge brownfields, suddenly in central locations, became sought-after properties for investors and developers. The merging of East and West Berlin, two cities with millions of inhabitants and very different histories, continued. In the everyday life of the city’s inhabitants, it remained hidden how many processes, directed by how many different actors, actually took place simultaneously and in what way the „inner images“ of the city changed or were partially erased in the process.

Susanne Brodhage encounters this reconstruction of the city with her gaze. Her photographs appear casual at first. Architecture with recognition value, such as the Zoopalast, recedes into the background, Schinkel’s brick building is pushed to the edge, large house-high posters jut into the picture as if by chance or determine the shots by covering entire buildings and construction sites. A closer look reveals that simulation and illusion are employed in this urban outdoor space of the inner city through „scenographic techniques“ such as event and intermediate architecture and digital designs for temporary and built facades.

The richly detailed color photographs reveal to us an artificial space that is not so much grown as highly constructed, primarily to evoke an urban experience. Carefully composed, the photographs include edges, transitions, and backs of constructions and facades. As a result, interstices become visible and the relationship of a before and behind resonates. The work ABGELAUFEN does not simply document „historical images“ of the city of Berlin, its strong effect lies rather in the fact that it attempts to take a look behind the images, so to speak, into reality.